Wir nehmen es locker im Kunsthistorischen Museum in Wien: „Italiener oder Holländer?“ lautet meine Frage an John Cleese, wenn ich wissen will, in welcher der beiden großen Gemäldegalerien er mich heute als Saalaufsicht einsetzen will.
Natürlich ist mit „Italiener“ die Galerie mit den italienischen, spanischen und französischen Malern gemeint. Und mit „Holländer“, die Galerie mit den holländischen, flämischen, deutschen und österreichischen Malern. Ich bevorzuge die „Italiener“, weiß aber nicht genau warum. Vielleicht, weil ich eine Weile in Italien gelebt habe. Aber immer, wenn mich John Cleese zu „den Holländern“ einteilt, weiß ich genau was gegen 16:00 Uhr geschieht: Ich werde unweigerlich einen Riesenhunger bekommen, was bei „den Italienern“ nie geschieht. Was ist Sache?
Während meiner Zeit in Italien – genauer im Friaul, ums Eck vom kleinen Dorf Casarsa della Delizia – schmeckte alles köstlich, was ich kochte, was ich als Gast zu essen bekam und was ich auf den Märkten sah. Und weil die Adria nicht weit war, gab es jede Menge Meeresungeheuer und Krustentiere, deren Zubereitung mir immer besonderen Spaß machte. Ich vermisse heute so einiges, dass die Supermärkte in Wien nicht selbstverständlich im Sortiment haben: Hasen, Hirschsalami, Wildschweinsalami und Weinbergschnecken. Aber vor allem die Vielfalt an Meeresungeheuern. An all das denke ich gegen 16:00 Uhr, auch wenn ich in „Italien“ meine Runden drehe – aber der Hunger packt mich nie so heftig wie in „Holland“, obwohl der Abstand zum Mittagessen und der Abstand zum Abendessen immer genau derselbe ist.
Wenn mich in „Italien“ etwas packt, dann ist es die Nostalgie der verlorenen Nachmittage auf dem Hauptplatz von Palmanova, wo vor so vielen Nachmittagen die Soldaten exerzierten, während ihnen vernachlässigte Offiziersgattinnen heimlich hungrige Blicke zuwarfen.
Hungrige Blicke der anderen Art ruft ein Rundgang durch „Holland“ bei mir hervor – vorbei bei den Fischmarktszenen von Snyders und van Sandrart und beim Gelage des Bohnenkönigs von Jordaens. Etwas derart Opulentes gibt es in „Italien“ einfach nicht. (Abgesehen vielleicht von Arcimboldo, der mich allerdings höchstens zum Fruchtgenuss oder zur Wurzelsuppe animiert. Das kann nicht viel…)
Wenn ich also gegen besagte Uhrzeit an besagten Gemälden vorbeischreite, versuche ich nicht hinzusehen. Aber das gelingt nie. Erst spüre ich eine blubbernde Regung im Magen, gefolgt vom klassischen, kurzen Knurrgeräusch aus dem Körperinneren.
„Ihr schon wieder…“ sage ich mit Blick auf die Marktszene. Manchmal hört ein Gast das. Und manchmal wird aus diesem Hungermonolog eine Erörterung verschiedener Rezepturen. Wenn der Gast, wie ich, ein Hardcore-Familienkoch ist, macht es den meisten Spaß und sorgt für die Vermehrung meiner Rezeptursammlung. Oft sind wir uns bis auf beachtenswerte Varianten einig, was man mit einzelnen der dargestellten Tiere zubereiten kann, oder mit einer Kombination aus mehreren Tieren.
Die im mediterranen Raum am weitesten verbreitete Version ist eine dicke Fischsuppe. In Dalmatien wird sie Brudet genannt. Es ist eine grobe Speise, authentisch durch die knorrigen Hände der Fischer in einsamen Buchten entstanden, wo man im Schutz abwartet dass der Sturm nachlässt. Und das geht so: Nimm eine Zwiebel und eine Tomate und das was du an Gemüse magst, röste es an, lösch es mit Wein und Wasser ab, fülle auf und lasse es köcheln bis es eindickt. Dann wirf verschiedene kleine Fische und Fischreste, die du aus dem Netz holst hinein und lasse es noch einmal zehn Minuten kochen – salzen, pfeffern und fertig!
Auf diese Weise vergehen meine hungrigen Nachmittage manchmal rasch – und lehrreich. Für die meisten der Tiere auf den Bildern kenne ich mindestens zwei Zubereitungsarten. Sogar für Einsiedlerkrebse und diese krallige Spindelschnecke, die in Dalmatien Volek heißt. Für viele Tiere, die ich aus der Adria nicht kenne, findet sich immer ein Gast, der es weiß. Doch ein Tier bleibt mir bis heute ein kochtechnisches Rätsel: Diese fucking Robbe auf dem Bild von Frans Snyders! Auf beiden Fischmarktbildern gibt es sie. Offenbar sind sie am Leben und fühlen sich nicht besonders wohl. Aber was man damit in der Küche machen soll, kann ich mir nur theoretisch – so wie bei einem Menschen – vorstellen.
Doch es kommt der Tag, als ein Gast mich erstaunt ansieht: „You dont know!? Everybody in Norway knows!“ Ich zücke mein altes Rezeptbuch, das ich als Mensch aus der Analogzeit jedem Smartphone bevorzuge. Da höre ich den tektonischen Alarm aus einem der Kabinette. Mein Funkgerät knarrt und die liebliche Stimme von Kate Bush sagt, sie sei schon unterwegs. Aber ich bin heute der „D-Posten“ also der Baron des musealen Fußvolkes in dieser Sammlung und am Ende des Tages verantwortlich für jedwedes Kulturerbe hier.
Mit Sabber im Mund reiße ich mich vom seerobbenkundigen Gast aus Norwegen los und eile in das Kabinett. Die Hygrometertante war ein wenig ungeschickt beim Platzieren des Hygrometers. Ich melde an die Sicherheitszentrale, der tektonische Alarm sei zu sensibel eingestellt und eile zurück zum Mysterium der Zubereitung von Seerobbe. Doch der Gast ist bereits verschluckt in der Menge – für immer. Alles was mir bleibt ist der Trost – wenn auch nur kurz – in die schönen, schwarzen Augen von Kate Bush geblickt zu haben…
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